Meldungen aus dem Landesverband Niedersachsen
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Geschichten, die Geschichte machen

Das Projekt „Geflohen, vertrieben – angekommen!? – Niedersachsens Zeugen von Gewaltmigration“. Abschlussveranstaltung am 6. Mai im Leibnizhaus der Universität Hannover

„Ich hatte weniger als eine Stunde Zeit zum Überlegen, ob ich das Land verlassen und ein ganz neues Leben beginnen wollte“, sagte Herr Tan-Loi Nguyen. Er war im Oktober 1981 mit einem Fischerboot aus Can Tho, die viertgrößte Stadt Vietnams geflohen. Nach zwei Tagen und drei Nächsten wurden die fast sechzig Geflüchteten von der Cap Anamur, einem Schiff der Hilfsorganisation um den Deutschen Rupert Neudeck mit Sitz in Köln, gerettet. Er ist heute in Oldenburg zu Hause.

Dies ist nur ein Schicksal von Tausenden von Menschen, die in mehr als siebzig Jahren nach Niedersachsen gekommen sind, weil sie in ihrer Heimat nicht bleiben konnten. Fast die Hälfte der in Niedersachsen lebenden hat einen Migrationshintergrund. Sehr oft sind sie unter Androhung von Gewalt aus den Ländern, in denen sie geboren und aufgewachsen sind, geflohen oder wurden vertrieben.

Die Geschichten dieser Menschen zur Sprache zu bringen und deren Schicksale zu erzählen, haben sich der Volksbund in Niedersachsen, die Landesbeauftragten für Heimatvertriebene, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und der Bund der Vertriebenen im vergangenen Jahr in fünf Web-Seminaren vorgenommen. Dabei wurde deutlich, dass die Fluchterfahrung gewissermaßen zur DNA des Landes gehört, aber das Wissen um die Hintergründe dieser Menschen wenig oder gar nicht verbreitet ist.

In der Abschlussveranstaltung zum Projekt „Geflohen, vertrieben – angekommen!? – Niedersachsens Zeugen von Gewaltmigration“ am 6. Mai 2022 im Leibnizhaus in Hannover, die auch online erreichbar war, wurden mehrere Biografien vorgestellt.

So war von Marianne Neumann zu hören, dass ihre Familie als Deutsche in Russland schon mehr als 200 Jahre auf der Krim wohnte, bevor sie eher unfreiwillig von den Nationalsozialisten ins besetzte Polen „heim ins Reich“ gebracht wurde. Von dort gelangte sie nach Brandenburg, wo die Rote Armee sie 1945 als Sowjetbürger aufgriff und nach Kasachstan deportierte. Erst nach vielen Stationen gelang 1976 schließlich die Ausreise nach Deutschland. Sie lebt heute in Langenhagen bei Hannover.

Helge Kahnert, in Ostpreußen geboren, floh mit der Familie 1944 über die zugefrorene Ostsee. Vor ihren Augen sah sie ein Pferdefuhrwerk ins Eis einbrechen. Nur ein kleines Mädchen überlebte, dem ihre Mutter zum Trost die Puppe der kleinen Helge schenkte. Frau Kahnert lebt in Oldenburg und sammelt bis heute Puppen. Weiter erzählt sie, dass die Familie zur Flucht über die Ostsee eigentlich die „Wilhelm Gustloff“ nehmen sollte, zu der Zeit ein Truppentransporter der Deutschen Wehrmacht, der am 30. Januar 1945 durch ein sowjetisches U-Boot Pommerns versenkt wurde. Zwischen 4.000 und mehr als 9.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Der kleine Bruder von Helge Kahnert aber hatte sich geweigert, das Schiff zu betreten und es wurden andere Wege gefunden, den Weg Richtung Westen fortzusetzen.

Die Familie von Mahmoud Dababish floh 1949 aus Palästina und hatte seitdem keine offiziellen Dokumente als Staatsbürger mehr. Im Libanon oder in Saudi-Arabien waren sie stets nur geduldet und zumeist rechtlos. 2016 kam er mit Frau und Kindern über Frankreich und Schweden nach Deutschland. Er hat eine Ausbildung als Busfahrer gemacht und stieg schon bald zum Disponenten im selben Unternehmen auf. Die Familie lebt heute in Nienburg/Weser.

Zur Veranstaltung gehörten weiterhin zwei informative Vorträge, die mit Prof. Dr. Michael Hirschfeld der Universität Vechta, die Hintergründe von Flucht und Vertreibung in der Geschichte nach 1945, und mit Prof. Dr. Jochen Oltmer der Universität Osnabrück die aktuelle Migrationsforschung beleuchteten. Weiterhin berichtete der Filmemacher Maksym Melnyk über die Situation der ukrainischen Geflüchteten in Berlin, seine eignen Erfahrungen als Migrant und Mitglied seiner Community, aber auch darüber, wie sich für ihn die Frage der Identität neu stellte.

Der Abschluss der Veranstaltung bildete ein Podiumsgespräch mit den Landtagsabgeordneten Editha Westmann (CDU, zugl. Landesbeauftragte), Hans-Joachim Janßen (Bündnis 90/Die Grünen, zugl. Landesvorsitzender), Christian Grascha (FDP, zugl. Parlm. Geschäftsführer) und Prof. Oltmer. Deutlich wurde hierbei, dass das Land Niedersachsen langfristig auf einen geregelten Zuzug einstellen muss und dafür geeignete Strukturen und gesetzlichen Instrumente für eine erfolgreiche Integration braucht.

Dass Menschen, die neu nach Niedersachsen kommen, ihre Geschichte erzählen können, gehört unbedingt dazu!

Die Aufzeichnung der Veranstaltung können Sie hier sehen: „Geflohen, vertrieben – angekommen!?“ Abschlussveranstaltung des Gemeinschaftsprojekts – YouTube

Ausstellung

Die bereits 2016 veröffentlichte Ausstellung „geflohen, vertrieben – angekommen?!“ steht ab sofort in einer aktualisierten Fassung zur Verfügung. Mehr Informationen zur Ausstellung: Mediathek-Detailseite (volksbund.de)

Interviews

Im Rahmen des Projektes „Geflohen, vertrieben – angekommen!? Zeug:innen von Gewaltmigration in Norddeutschland (1945–2021)“  wurden Interviews aufgezeichnet. Zwei von ihnen sind für Sie auf YouTube bereitgestellt:

Kim-Tan Dinh & Tan-Loi Nguyen – Flucht aus Süd-Vietnam (Kurzfassung)

Marianna Neumann – Aussiedlung aus der Sowjetunion 1976 (Kurzfassung)